Die Natur der Lebewesen und der Biologie

Roland Heynkes, 1.8.2020

Viele halten die Biologie für ein nettes leichtes Nebenfach, das vor allem Erholung, Spaß und gute Noten verspricht. In Wirklichkeit sind die Anforderungen an Fleiß, Intelligenz, selbständiges Denken und sprachliche Fähigkeiten in keinem Schulfach höher als in der Biologie. Das liegt vor allem an der unvergleichlichen Komplexität und Vielfältigkeit der Lebewesen und deren Beziehungen. Deutsche Biologie-Schulbücher versuchen den Eindruck gesicherter Erkenntnisse und einer präzisen Fachsprache zu vermitteln. Aber in Wirklichkeit gibt es in der Biologie praktisch keine exakten und allgemein akzeptierten Definitionen und viel mehr offene Fragen als Wissen. Wir Biologe haben nicht einmal eine gemeinsame Fachsprache. So bedeutet beispielsweise der Begriff Metamorphose in der Botanik etwas völlig anderes als in der Zoologie.

Ein gutes Beispiel für diese Probleme der Biologie ist die scheinbar einfache Frage nach der Natur der Lebewesen oder dem Unterschied zwischen Lebewesen und Nichtlebewesen. So steht zum Beispiel in einem erst 2015 überarbeiteten Biologiebuch für die Einführungsphase: "Lebewesen von Unbelebtem zu unterscheiden gelingt in der Regel leicht.". Selbst Autoren von Biologiebüchern schreiben derart groben Unsinn, weil sie wichtige Prinzipien noch nicht verstanden oder beim Formulieren nicht genügend nachgedacht haben. Selbst eigentlich erfahrene Naturwissenschaftler vergessen oft, dass in der Biologie fast nichts so einfach ist wie es scheint und dass es sich immer wieder lohnt, über scheinbar selbstverständliches noch einmal gründlich nachzudenken. Grundsätzlich sollte man in der Biologie immer versuchen, Aussagen durch Gegenbeispiele zu widerlegen. Man nennt das Falsifizieren und es ist ein Grundpfeiler naturwissenschaftlichen Denkens.

Denken wir also mal einen Moment darüber nach, warum der Satz in diesem Biologiebuch so falsch und irreführend ist. Immerhin waren die Autoren umsichtig genug, mit der Möglichkeit von Ausnahmen zu rechnen und eine absolute Aussage zu vermeiden, die in der Biologie meistens falsch sind. Trotzdem ist ihnen ein schwerwiegender Fehler unterlaufen, indem sie Lebewesen und Unbelebtes als Gegensatz darstellen. Das ist deswegen so problematisch, weil es Lernende zu der Annahme verleitet, Lebewesen könnten nicht unbelebt sein. Dabei ist es sehr wichtig zu verstehen, dass Lebewesen Pausen vom Leben machen können. Das schon sehr lange bekannte und wohl berühmteste Beispiel dafür ist das Bärtierchen. Es kann einen völlig ausgetrockneten Zustand annehmen, in welchem keinerlei Lebensprozesse mehr nachweisbar sind. Bei wieder günstigeren Lebensbedingungen kann es aber mit etwas Glück aus diesem todesähnlichen Zustand ins Leben zurück kommen. In ihrem berühmten Lehrbuch der Botanik für Hochschulen schrieben die Autoren Strasburger, Noll, Schenck und Schimper schon vor über Hundert Jahren, dass es bei Flechten und Pflanzen viele Beispiele für den latentes Leben genannten Zustand gebe, in dem ein Lebewesen lange Zeiträume mit extrem ungünstigen äußeren Einflüssen ohne jeden Lebensprozess, aber lebensfähig überdauern kann.

Nun könnte man vielleicht meinen, das latente Leben bzw. die Pause vom Leben interessiere doch außer übergenauen Biologen keine Sau und man könne das unter dem Motto: "didaktische Reduktion" in einem Schulbuch einfach ignorieren. Aber wenn man wie die Autoren vieler Biologiebücher behauptet, alle Lebewesen tauschten als offene Systeme ständig Stoffe und Energie aus und seien fähig zu Regulation, Reaktion, Kommunikation und Reproduktion, dann erklärt man damit in flüssigem Stickstoff eingefrorene menschliche Embryonen zu toter Materie. Und weil ein Embryonenschutzgesetz für tote Materie kompletter Unsinn wäre, könnte man mit dieser Argumentation durchsetzen, dass man eingefrorene menschliche Embryonen einfach vernichten oder damit experimentieren dürfte. Spätestens da hört der Spaß mit der didaktischen Reduktion aber auf und das Nachdenken über die Natur der Lebewesen sollte doch ernsthafter betrieben werden als von den Autoren unserer Biologiebücher.

Eine vertiefte Beschäftigung mit den wirklich allen Lebewesen jederzeit gemeinsamen Eigenschaften ist nicht wichtig für gute Noten. Ich frage danach auch nicht in Klausuren. Aber das ist eine der wichtigsten Fragen für alle, die sich für das Phänomen Lebewesen interessieren. Besonders Interessierte können dazu den Lerntext: "Was sind Lebewesen?" lesen.