Die Häufung von Todesfällen aufgrund der neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit in Leicestershire

Roland Heynkes, 15. August 2000 (aktualisiert am 26.3.2001)

Gliederung

die Fakten
die Untersuchung
Spekulationen
erste Verdachtsmomente
Der schmale Grat zwischen wissenschaftlichen Gedankenspielen und rufschädigenden Gerüchten
Alternative Erklärungen für das gehäufte Auftreten der nvCJK bei jungen Menschen

die Fakten

In der Grafschaft Leicestershire wurde bis zum 13. Juli 2000 die neue Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit bereits viermal gesichert und einmal mit großer Wahrscheinlichkeit diagnostiziert. Das sind 5 der 76 bis zum 17. Juli im Vereinigten Königreich sicher oder mit großer Wahrscheinlichkeit diagnostizierten Fälle, von denen 7 noch leben. Immerhin 3 dieser 5 Fälle betrafen Bewohner des kleines Ortes Queniborough, die bereits 1998 binnen 12 Wochen starben. Nach Ansicht von Statistikern ist es unwahrscheinlich, daß eine derartige Häufung zufällig auftritt. Deshalb untersuchen nun Experten der britischen Ministerien für Gesundheit und Landwirtschaft, der örtlichen Gesundheitsbehörde, des nationalen Creutzfeldt-Jakob-Überwachungszentrums, des Institutes für Hygiene und Tropenmedizin in London, sowie des Überwachungszentrums für ansteckende Krankheiten vom Laborservice für öffentliche Gesundheit an einer Untersuchung der Fälle vor Ort.

Man sollte aber nicht vergessen, daß selbstverständlich eine Häufung von 5 oder sogar mehr Fällen in einem kleinen Ort immer auch rein zufällig auftreten kann.

Die Untersuchung

Anscheinend konzentriert sich die Untersuchung anfangs auf die örtliche Schlachtung und Verwertung älterer Milchkühe. Vielleicht werden deren beste Stücke vorwiegend aus der Region exportiert, während möglicherweise infektiöse Gewebe als billiges Rohmaterial für Gehacktes und Fertiggerichte eher vor Ort verkauft werden. Nach Ansicht eines Beteiligten sollte schon bald mit ersten Ergebnissen der Untersuchungen zu rechnen sein.

Inzwischen gibt es eine Zusammenfassung des Abschlußberichtes.

Spekulationen

Sollte die in der Grafschaft Leicestershire beobachtete Häufung von BSE-bedingten Creutzfeldt-Jakob-Fällen wirklich kein Zufall sein, dann wären verschiedene nur lokal wirksame Ursachen denkbar. Die Opfer könnten relativ nahe verwandt gewesen sein und alle eine genetisch bedingte besondere Empfänglichkeit für BSE-Infektionen gehabt haben. Sie könnten aber auch alle einer besonders gefährlichen lokalen Infektionsquelle ausgesetzt gewesen sein. Als Infektionsquellen kämen generell besonders fahrlässig mit gefährlichen Geweben umgehende Fleischverarbeiter, aber auch einzelne BSE-infizierte Kühe in Betracht, die unerkannt in Queniborough verarbeitet und gegessen worden sein könnten. Untersuchen sollte man aber auch die Möglichkeit, daß insbesondere Kinder Impfstoffe oder Medikamente erhalten haben könnten, die aus oder mit infektiösen Rinderprodukten hergestellt wurden.

erste Verdachtsmomente

Über erste Verdachtsmomente berichtete am 13. August die Sunday Times.

1982 wurden zwei britische Fleischhändler aus der Grafschaft Bedfordshire zwischen Leicester und London verurteilt, weil sie 1980 Teile von nicht für den menschlichen Verzehr geeigneter Rinder aus einer Abdeckerei im nur 8 Meilen von Leicester entfernten Wigston mit gefälschten Stempeln markiert und an einen ahnungslosen Metzger in der Grafschaft Hertfordshire, westlich von London verkauft hatten. Der inzwischen verstorbene Chef der damals geschlossenen Abdeckerei kam damals mit der Erklärung davon, ihm habe man eine legale Verwendung als Futter für den Whipsnade Zoo vorgegaukelt. Auch sein Bruder versicherte unlängst, daß das Fleisch aus dieser Abdeckerei größtenteils an Zoos und lokal nur als Hundefutter verkauft wurde.

Nun sucht die Untersuchungskommission in alten Akten nach Hinweisen auf eventuell auch in die nähere Umgebung verkauftes Fleisch aus dieser Abdeckerei. BSE war zu dieser Zeit zwar noch unbekannt, aber vielleicht schon damals unerkannt an BSE gestorbene Rinder wären höchst wahrscheinlich in Abdeckereien verwertet worden. Der Vater einer an der neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gestorbenen jungen Fau berichtete jedoch, daß seine Familie in den Jahren um 1980 häufig bei einem Metzger in Queniborough einkauften und das dieser ihm einmal von einem sehr günstigen Fleischeinkauf berichtet hatte. Auch mindestens ein weiteres nvCJK-Opfer hatte regelmäßig Fleisch dieses Metzgers gegessen.

Andererseits versichert die Stiefmutter des inzwischen tödlich verunglückten Fleischers, daß sie ihre Ware nur direkt von Farmen der Umgebung gekauft und nichts von der Abdeckerei im nahen Wigston gewußt hätten.

Der schmale Grat zwischen wissenschaftlichen Gedankenspielen und rufschädigenden Gerüchten

Der Leiter des nationalen britischen Creutzfeldt-Jakob-Überwachungszentrums in Edinburg, Prof. Robert Will, wurde mit der Mutmaßung zitiert, daß mit besonders rabiaten Mitteln von den Knochen bereits ausgeweideter Rinder gelöste letzte Fleischreste in den 80er Jahren Baby- und Kindernahrung kontaminiert haben könnten. Da Babynahrung nicht für einzelne Grafschaften hergestellt wird, könnte dies natürlich nicht die Häufung der Fälle in Leicestershire, wohl aber das relativ geringe Alter der Opfer mit der neuen Creutzfeldt-Jakob-Variante erklären. Während aber wilde Spekulationen unter Wissenschaftlern durchaus üblich und oft auch nützlich sind, sollten offizielle Vertreter wichtiger Institutionen des öffentlichen Gesundheitswesens immer auch an die Wirkungen ihrer Äußerungen außerhalb der Fachwelt denken. In diesem Falle hätte Prof. Will wohl besser diskret nach Belegen für seine Vermutung gesucht, bevor er Millionen besorgte Eltern und die um ihre Umsätze fürchtende Babynahrungsindustrie in helle Aufregung versetzte.

Der in der Grafschaft Leicestershire für übertragbare Krankheiten zuständige Dr Philip Monk bestritt denn auch energisch, daß Babynahrung oder Schulmahlzeiten etwas mit der nvCJK-Häufung in Leicestershire zu tun haben könnten. Deutliche Dementi kamen auch von den britischen Marktführern für Babynahrung Boots, Heinz und Cow and Gate. Alle bestreiten, jemals Fleisch aus den verdächtigen Partien des Rindes verwendet zu haben. Schon gar nicht wollen sie in den 80er Jahren mit hohem Wasser- oder Luftdruck von Rinderknochen gelöste Fleischreste in ihre Markenbabynahrung gemischt haben.

Hinsichtlich der kaum weniger wichtigen Kindernahrung scheint es solche Reaktionen der Industrie noch nicht zu geben und in diesem Sektor muß man wohl dem Verdacht von Prof. Will noch nachgehen.

Offenbar als Reaktion auf diese aktuelle Diskussion beschloß der EU-Agrarministerrat am 17.7.2000 eine Kennzeichnungspflicht für Fleisch und Hackfleisch ab dem ersten September 2000, die genaue Auskunft über die Orte von Schlachtung und Verarbeitung gibt. Auf eine Kennzeichung der eigentlichen Herkunft eines Rindes müssen die Verbraucher aber noch lange warten.

Alternative Erklärungen für das gehäufte Auftreten der nvCJK bei jungen Menschen

Ernährungsbedingte Fälle von Creutzfeldt-Jakob-Krankheit könnten aber auch einfach deshalb verstärkt bei jüngeren Menschen auftreten, weil die Darmwände erst mit zunehmendem Alter einen wirksamen Schutz gegen die Aufnahme noch unvollständig verdauter Nahrung aufbauen. Außerdem zeigt der Vergleich verschiedener Tierarten, daß kleine Tiere mit intensivem Stoffwechsel sehr viel früher erkranken als große Tiere mit einem ruhigeren Stoffwechsel. Übertragen auf den Menschen könnte dies bedeuten, daß sich die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit bei Kindern schneller als bei Erwachsenen mit ihrem deutlich langsamerem Stoffwechsel entwickelt.

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