NR AQAK
AU Foster,P.R.; Stolle,A.; Maierl,J.; Liebich,H.G.
TI Anatomie setzt natürliche Grenzen. Problematik der Entfernung der Spinalganglien
QU Fleischwirtschaft 2002 Jan 14; 82(1): 17
PT journal article
VT
Die Fleischgewinnung umfasst vielfältige Bereiche, wie das Schlachten der Tiere und das Herrichten, Zerlegen, Kühlen etc. des Schlachttierkörpers und der Nebenprodukte. Die hohe Verderbnisanfälligkeit des Fleisches erfordert eine besondere Sorgfalt bereits bei seiner Gewinnung. Damit wird eine wissenschaftlich begründete Schlachttechnologie und -hygiene zum wesentlichen Bestandteil des Fleischgewinnungsprozesses. Neue Technologien, insbesondere Maßnahmen zur Entfernung von sogenanntem spezifizierten Risikomaterial (SRM), stellen eine zusätzliche Herausforderung dar. Dabei ist zu beachten, dass Aktivitäten im technologischen Bereich oft nur aus betriebswirtschaftlichen Aspekten vorgenommen werden, ohne die Belange der Hygiene und der Anatomie ausreichend zu berücksichtigen.
Ausgangssituation
Nach der Bekanntgabe des ersten BSE-Falls in Deutschland am 26. November 2000 wurden in den verschiedensten Bereichen der Landwirtschaft und der Rindfleischgewinnung Maßnahmen gegen eine mögliche Gefährdung des Verbrauchers durch kontaminiertes Material ergriffen. Ein erheblicher Teil der deutschen Verbraucher äußerte daraufhin nachdrückliche Bedenken gegenüber dem Genuss von Rindfleisch. Sicherlich lag die Ursache dafür in "panikmachenden" Pressemeldungen, in einer völligen Unkenntnis der technologischen und hygienischen sowie der epidemiologischen Hintergründe. Detailkenntnisse der Schlachtung und der damit verbundenen Technologien waren vollständig den Mitarbeitern der Fleisch gewinnenden Unternehmen vorbehalten. Die bis dahin auf diesem Sektor weitgehend unerfahrene Öffentlichkeit musste sich nun unvermittelt mit Begriffen aus der Schlachttechnologie und der Anatomie der Tiere vertraut machen. Aber auch den Fachkräften, welche mit der Anatomie der Rinder vertraut sein sollten, wurde Spezialwissen abverlangt. So wurde zum Beispiel nach der Einstufung der Spinalganglien als SRM die bis zu diesem Zeitpunkt im Bereich der Schlachttechnologie und -zerlegung nicht relevante anatomischen Lage derselben hinterfragt.
Die Einstufung von verschiedensten Organen von Rindern durch das Scientific Steering Committee (SSC) in Infektionsklassen machte deutlich, dass von einigen bestimmten Organen erkrankter Rinder ein hohes Infektionsrisiko ausgeht. Dieser Einstufung wurde in der Neuregelung des Fleischhygienegesetztes durch eine Erweiterung der Listung des spezifizierten Risikomaterials Rechnung getragen. Neue Techniken in der Rinderschlachtung und -zerlegung, welche ein Freisetzen von infektiösem Material und damit eine mögliche Kreuzkontamination von Muskelfleisch vermeiden sollen, wurden erprobt. Das Hauptaugenmerk gilt der Beseitigung von Rückenmark und Spinalganglien bei Rindern über 12 Monaten, von denen laut SSC eine hohe Infektiosität ausgeht.
Technologische Aspekte
Für den industriellen Bereich wurden Absauganlagen für das Rückenmark vorgestellt und erprobt. Diese Anlagen arbeiten mit Unterdruck und sollen vor der Spaltung der Tierkörper das gesamte Rückenmark und die Spinalganglien entfernen. Dazu wird nach dem Absetzen des Kopfes und der Schwanzwirbel im Bereich des Atlanto-Okzipitalgelenks in die Dura mater ein PVC-Schlauch eingeschoben und vorsichtig nach kaudal geschoben. Das mit Unterdruck abgesaugte Material wird in einem geschlossen Behälter aufgefangen und gesetzeskonform beseitigt. Nach der Spaltung der Tierkörper ist adspektorisch zu überprüfen, ob das Rückenmark vollständig abgesaugt wurde. Die Dura mater, vom SSC ebenfalls als hoch infektiös eingestuft, verbleibt noch im Wirbelkanal und wird am Ende der Schlachtkette mit Hilfe einer Fräse entfernt.
Makroskopische Untersuchungen am Tierkörper auf Vollständigkeit der Entfernung des Rückenmark und der Spinalganglien lassen nur für das Rückenmark eindeutige Aussagen zu. Mit Hilfe der Absauganlage lässt sich das Rückenmark vor der Spaltung der Tierkörper vollständig entfernen. Allerdings weist diese Form einer "manuell-technischen" Entfernung einige Schwachstellen auf. Die Vollständigkeit der Absaugung des Rückenmarks ist stark von der individuellen Geschicklichkeit des Ausübenden und der unterschiedlichen Krümmung der Wirbelsäule der Rinder, vor allem im Lendenwirbelbereich, abhängig. Bei massiven manuellem Vorschub des Schlauches kann mit der Schlauchspitze die Dura mater perforiert werden und die "Absaugung" erfolgt außerhalb der Dura mater. Die Folge ist eine unvollständige Entfernung des Rückenmarks aus dem Wirbelkanal. Rückenmark, welches nach der Spaltung der Schlachttierkörper im Wirbelkanal verblieben ist, kann manuell mit Hilfe eines Saugers beseitigt werden. Allerdings beschränkt sich das Saugen meist nicht nur auf den Wirbelkanal. Der mit Rückenmark kontaminierte Sauger (und möglicherweise mit infektiösem Material) dient häufig außerdem zum Entfernen von losem Fett und von Flüssigkeitsansammlungen auf den Muskelanschnitten der Schlachttierkörper. Werden die Arbeitsschritte Absaugen von SRM und anschließendes Herrichten der Schlachtkörperhälften nicht getrennt, besteht die Gefahr einer Kreuzkontamination.
Anatomische Aspekte
Der Gesetzgeber verlangt, dass die Spinalganglien als spezifiziertes Risikomaterial gemäß den Bestimmungen beseitigt werden müssen. Ansammlungen von Nervenkörperzellen außerhalb des zentralen Nervensystems werden als Ganglien bezeichnet. Da diese aus großen Perikarien und Nervenfasern bestehen, sind die Ganglien auch makroskopisch als knotige Verdickungen zu erkennen. Die Ganglien des Rumpfes umfassen drei verschiedene Arten: Zu nennen sind die Vertebralganglien (Spinalganglien), die Paravertebralganglien (autonome Grenzstrangganglien) und die Praevertebralganglien. Im engeren Sinn umfasst der Begriff der Spinalganglien nur die Vertebralganglien ("dorsal root ganglia").
Im Rahmen von Expertengesprächen wurde die Frage erörtert, ob die Spinalganglien, besonders die des Halses, bei der Fleischgewinnung in die Nahrungskette gelangen oder beim Absaugen des Rückenmarks entfernt werden können. Das Rückenmark des Rindes ist umgeben von der harten Rückenmarkshaut, der Dura mater spinalis. Diese stellt eine derbe kollagenfaserige, schlauchförmige Hülle dar. Zwischen dem Periost des Wirbelbogens und der harten Hirnhaut, Dura mater spinalis, liegt der Epiduralraum, der mit lockerem Fettgewebe ausgefüllt ist. Innerhalb der Durahülle liegen jeweils die dorsale und ventrale Spinalnervenwurzel als intraduraler Teil der Nervenwurzel. Die dorsalen und ventralen Wurzelfäden laufen jeweils konvergierend aufeinander zu und passieren getrennt die Durapforte. Sie bleiben dabei von Bindegewebe der Rückenmarkshaut umgeben, der sogenannten Durascheide. Außerhalb des Duraschlauches ist im Verlauf der dorsalen Nervenwurzel das Spinalganglion, Ganglion spinale, eingelagert. Dieses liegt entweder im Foramen intervertebrale bzw. Foramen vertebrale laterale oder in dessen unmittelbarer Umgebung, kurz vor oder hinter dem Zwischenwirbelloch (Seiferle, 1939; Seiferle und Böhme, 1990). Die Ganglien der Kreuz- und Schwanznerven liegen ganz im Wirbelkanal des Kreuzbeins. Die extraduralen Anteile der Nervenwurzel vereinigen sich in unmittelbarer Nähe des Ganglions zum Spinalnervenstamm.
Zur Beurteilung dieses Sachverhaltes wurde exemplarisch für die Rinderwirbelsäule die ersten 4 Halswirbel präpariert (Atlas bis 4. Halswirbel, DFV-Bullen). Zur besseren Übersicht wurden die Wirbelbögen abgetragen. Nach Entfernung des epiduralen Fett-und Bindegewebes konnte die Lage der Spinalganglien für die ersten vier Halsnerven beurteilt werden (Abb. 1). Alle untersuchten Spinalganglien (Halsnerven 1 bis 4) liegen extradural. Die des ersten Spinalnervenpaares waren innerhalb des Atlasbogens zu finden (Abb. 2), die nachfolgenden drei untersuchten Nervenpaare kurz vor oder im Foramen intervertebrale (Abb. 3).
Um die bekannten Schäden im Gehirn infizierter Tiere und die damit verbundenen klinischen Erscheinungen hervorrufen zu können, müssen die Prionen vom Magen-Darm-Trakt zum Gehirn gelangen, sofern eine Ansteckung der Rinder über erregerhaltiges Futter stattfindet. Dazu gibt es folgende Überlegungen zu möglichen Infektionswegen über aufsteigende vegetative Nervenfasern: Die afferenten Fasern aus den Baucheingeweiden erreichen das Zentralnervensystem auf zweierlei Wegen. Einerseits ziehen die afferenten Fasern über das sympathische System aus den Organen über die prävertebralen Ggll. coeliacum bzw. mesentericum craniale zu den paravertebralen Grenzstrangganglien weiter bis zu den Spinalganglien in den Dorsalwurzeln der Lenden-und Brustspinalnerven. Andererseits erstreckt sich das Einzugsgebiet des N. vagus als dem wichtigsten parasympahtischen Nerven in der Bauchhöhle auf alle Eingeweide ausgenommen Colon descendens und Rektum. Die afferenten Nervenfasern gelangen dabei teils indirekt über das Ggl. mesentericum craniale und das Ggl. coeliacum, teils direkt in die beiden Trunci vagales dorsalis und ventralis. Diese ziehen als linker und rechter N. vagus im Truncus vagosympathicus kopfwärts und gelangen so zur Medulla oblongata. Sensible Ganglien des N. vagus sind das Ggl. distale, vor allem aber das Ggl. proximale nervi vagi. Letzteres wird in der Literatur funktionell einem Spinalganglion gleichgesetzt. Darüber hinaus erfolgt eine parasympathische Innervation der Beckeneingeweide über die Nn. pelvini, die über die Kreuznerven Anschluss an das Rückenmark erhalten. Eine Gefahr für den Verbraucher ist von diesen Nervengeweben, welches von Tieren stammt, die zwar infiziert sind, aber die Manifestation der Prionen im Gehirn noch nicht stattgefunden hat, möglicherweise zu erwarten. Wissenschaftliche Untersuchungen dazu stehen noch aus.
Spezifiziertes Risikomaterial muss grundsätzlich im Schlachtbetrieb entfernt werden. Die Entfernung der Wirbelsäule kann spätestens im Zerlegebetrieb oder kann auch an der Verkaufsstätte, für den heimischen Markt, erfolgen. Die Entfernung des Rückenmarks durch Absaugen erfasst auf Grund der anatomischen Gegebenheiten nur das Rückenmark selbst. Die Spinalganglien sind durch die extradurale Lage nicht erreichbar. Der anschließende Vorgang des Fräsens, mit dessen Hilfe die Dura mater entfernt werden soll, könnte durch gewisse Zugwirkung eine Entfernung der Spinalganglien bewirken. Dieses ist aber durch geeignete Verfahren, zum Beispiel Ultraschalluntersuchungen am Schlachttierkörper, weiter zu untersuchen. Die Spinalganglien werden zum großen Teil beim Entfernen der Wirbelsäule mitentfernt, eine zuverlässige Entfernung aller Spinalganglien ist dennoch nicht gewährleistet. Untersuchungen in Schlachtbetrieben nach Ausfräsen ergaben, dass bei Vorhandensein von Dura mater oder deren Rest immer Spinalganglien vorhanden waren, die im epiduralen Fettgewebe im Foramen intervertebrale liegen. Durch manuelles Ablösen des Fleisches an der Wirbelsäule kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass Spinalganglien miterfasst werden und so in die Nahrungskette gelangen können.
Schlussfolgerung
Eine lückenlose Entfernung des SRM erscheint mit der vorhandenen Technologie kaum realisierbar. Dieser Sachverhalt ist vor allem durch die anatomischen Gegebenheiten begründet, welche bei der Textgestaltung der Rechtsnorm nicht ausreichend beachtet wurden.
Andere, bisher nicht gelistete Teile des Nervensystems könnten ein weiteres Risikoreservoir darstellen, vor allem bei Rindern, welche zwar bereits infiziert sind, der Erreger sich aber noch nicht im Gehirn manifestiert hat. Die Gefahr einer zusätzlichen Kontamination während der Fleischgewinnung ist durch eine unachtsame Vorgehensweise beim Ausfräsen und Fettabsaugen gegeben. Die Maßnahmen sind daher nur von Personal vorzunehmen, die in einer speziellen Ausbildung die notwendigen Fachkenntnisse erworben haben. Einschränkend muss gesagt werden, dass eine völlige Ausschaltung aller Risiken auf den verschiedenen Stufen der Fleischgewinnung nicht möglich erscheint. Die Fleischgewinnungsindustrie, die Fleischhygieneämter und die Wissenschaft sollten die gemeinsamen Herausforderung annehmen und ein praktikables und sicheres Verfahren zu entwickeln. Das Primat des Verbraucherschutzes darf allerdings nicht eingeschränkt werden. Es muss immer vor Maßnahmen der technologischen Rationalisierung Bestand haben.
Literatur:
Seiferle, E. (1939): Zur Rückenmarkstopograhpie von Pferd und Rind. Zschr. Anat. Entw.gesch. 110, 371-384. - Seiferle, E. und G. Böhme (1990): Nervensystem. In: R. Nickel, A. Schummer and E. Seiferle, Lehrbuch der Anatomie der Haustiere, Bd. IV, 3. Aufl. Berlin, Parey.
AD Andreas Stolle, Sonja Forster, Institut für Hygiene und Technologie der Lebensmittel tierischen Ursprungs der Tierärztlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, Veterinärstr. 13, D-80539 München, Deutschland; Hans-Georg Liebich, Johann Maierl, Institut für Tieranatomie der Tierärztlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, Veterinärstr. 13, D-80539 München, Deutschland
SP deutsch
PO Deutschland
OR Prion-Krankheiten 3