NR ARXF
AU Wedemeyer,G.; Eikenaar,A.
TI Zeitbombe
QU Stern Nr. 47/2000
PT Zeitungsartikel
VT
In Frankreich häufen sich die Fälle von Rinderwahnsinn, ein junger Mann starb an der neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Die britische Seuche hat den Kontinent erreicht. Wissenschaftler fürchten, dass auch deutsche Fleischesser gefährdet sind
Apathisch liegt der 19-jährige Arnaud im Bett. Sein Blick geht ins Leere. Er ist abgemagert, seine Hände sind verkrampft. Durch eine Magensonde im rechten Nasenloch wird er künstlich ernährt. Es muss seine Mutter große Überwindung gekostet haben, ihn so im Fernsehen zu präsentieren. "Man hat uns geraten zu schweigen, um die Leute nicht verrückt zu machen", erzählt sie vor laufender Kamera. Sie will nicht mehr schweigen.
Drei Tage später stirbt Arnaud. Er ist das dritte BSE-Opfer in Frankreich. Der Schüler litt an der tödlichen neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (vCJK), die beim Menschen das Gehirn zersetzt wie BSE beim Rind. Seit der öffentlichen Anklage von Arnauds Familie herrscht Panik im Land von Bouf bourgignon und Chateaubriand. Schon darf an vielen Schulen kein Rindfleisch mehr gegessen werden. Der Absatz von Steaks ist fast um die Hälfte zurückgegangen, Massen-Notschlachtungen älterer Tiere werden erwogen - alles wie in England vor vier Jahren.
Es ist also so weit: Die Seuche ist auf dem Kontinent angekommen. Für die Bauern eine schlechte Nachricht, aber nicht wirklich bedrohlich. Sie bekommen Entschädigung. Schon deswegen, damit sie kranke Tiere wirklich melden. Doch der Seuche werden auch auf dem Festland nicht nur Kühe zum Opfer fallen. "Die Bauern kaufen sich eine neue Herde. Wir können uns keinen neuen Sohn kaufen", schluchzte Arnauds Mutter. Vor drei Wochen hatte die Mutter der 14-jährigen Engländerin Zoe Jeffries ihr sterbendes Kind gezeigt. In ihrem Schmerz sagte sie den brutalen Satz: "Wäre Zoe eine Kuh und ich ein Farmer, hätten wir keine finanziellen Probleme."
Nach wie vor werden in Großbritannien jeden Monat rund 100 neue BSE-Rinder entdeckt. Und drei neue Fälle von vCJK beim Menschen. Irgendwann wird sich dieses Verhältnis umkehren. Wissenschaftler befürchten, dass es auf der Insel weit mehr als 200000 vCJK-Tote geben wird. Und nun bangen die Franzosen. Dabei hatten sie anders als die Briten sofort die ganze Herde geschlachtet, wenn nur eine einzige kranke Kuh entdeckt wurde. Es hat nicht viel genützt. Bis heute hat man in Frankreich 176 BSE-Fälle gezählt, 96 allein in diesem Jahr. Denn bevor durch "Verrücktheit" offen sichtbar wird, dass eine Kuh BSE hat, trägt sie die Krankheit schon Jahre in sich. In der Zwischenzeit kann sie mehrfach den Besitzer gewechselt haben. Das macht BSE zur Zeitbombe.
Die Panik in Frankreich ist Folge einer Vorsichtsmaßnahme. Im Juni hatte man einen Frühtest auf BSE eingeführt. Rund ein Drittel der neuen Fälle wurde nur durch diesen Test entdeckt. Ohne ihn wäre das Fleisch solcher verseuchten Tiere längst verzehrt worden. Die Statistik wäre sauber geblieben, und die Franzosen würden sich weiter in Sicherheit wiegen. In der Schweiz, wo seit 1999 Frühtests laufen, werden sogar zwei Drittel der kranken Kühe nur auf diese Weise offenbar. Für England haben Wissenschaftler ausgerechnet, dass rund 750000 BSE-Rinder unerkannt in die Nahrungskette gelangt sind. Rein rechnerisch bedeutet das: Jeder Brite hat bisher etwa 50 BSE-verseuchte Rind-Portionen gegessen.
Viel zu spät und viel zu lasch hat die Politik reagiert. Das totale Handelsverbot für britische Rinder, britisches Tiermehl und britisches Fleisch kam erst 1996. Zuvor wurde getrickst, zensiert und gefälscht, was das Zeug hielt. Und wenn die Politik schließlich doch handelte, ließ stets die Fleischmafia grüßen: Immer wieder wurde Schmuggel von Rindern, Fleisch und Tiermehl aufgedeckt.
Trotz bereits geltendem Exportverbot wurden 1995 über Frankreich 70000 britische Kälber mit falschen Papieren nach Spanien und Italien geschafft.
Im Juli 1997 wurden 900 Tonnen britisches Rindfleisch in Holland und 172 Tonnen auf der Insel Rügen beschlagnahmt.
Im August 1997 importierte ein Hamburger Fleischhändler 616 Tonnen englisches Beef. Es wurde teilweise zu Wurst und Labskaus verarbeitet.
Im Mai 1998 wurde in Holland eine BSE-Kuh in einen Schlachthof geschmuggelt, der auch deutsche Firmen beliefert.
Gewaltig sind die wirtschaftlichen Interessen, die hinter dem Vieh- und Fleischhandel stehen. 84 Millionen Wiederkäuer stehen in Europas Ställen. 22 Millionen davon werden jedes Jahr geschlachtet. Noch als Tiere oder schon als Steak werden sie zu Hunderttausenden in Europa hin und her gekarrt, damit jeder Europäer seine 19,5 Kilo Rindfleisch pro Jahr auf den Teller bekommt. Auch Deutschland mischt beim tierischen Handel kräftig mit. 316 000 Tonnen Rindfleisch werden jährlich eingeführt. Wobei die genauen Zahlen offenbar keiner kennt. Selbst die amtliche Statistik unterscheidet zwischen "nachgewiesenem Außenhandel", der von der gesamten Menge aber nur 221000 Tonnen ausmacht. Nahezu 100 000 Tonnen gelten als "Zuschätzungen" - sozusagen das Eingeständnis von Schwarzimporten. Zusätzlich werden rund 150 000 Rinder und Kälber importiert, wobei vorsichtshalber nur vom "nachgewiesenen" Handel die Rede ist mit der Anmerkung, die Zahlen seien "ab 1993 wegen Umstellung wahrscheinlich unvollständig". Die meisten Lebendimporte kommen aus Polen und Tschechien.
Wie früher, als es noch ausschließlich um England ging, kommen die Politiker auch jetzt gegen die Fleischbarone nicht an. Die Versäumnisse der Vergangenheit wiederholen sich. Statt Frankreich umgehend mit einem Exportverbot zu belegen, gibt es komplizierte und gleichzeitig windelweiche Kennzeichnungsvorschriften, die obendrein missachtet werden. Eigentlich muss britisches Beef immer, auch im Restaurant, mit XEL markiert sein. Doch von 15 EU-Staaten halten sich nur vier daran. Die anderen kaufen billig bei den Engländern ein und verhökern die Ware dann mit Aufpreis als Eigenprodukt. Nur Schlacht- und Zerlegeort müssen für Fleisch aus anderen Ländern angegeben werden. Die Folge: Fleisch von französischen Rindern, die in Deutschland geschlachtet werden, kann vom Verbraucher nicht als solches erkannt werden. Erst 2002 müssen auch Herkunfts- und Mastland gekennzeichnet werden. Und es gibt auch dabei wieder versteckte Einschränkungen: Bis zu 30 Tage darf ein Kalb im Ausland gemästet worden sein - wenn es danach mehr als 30 Tage in einem deutschen Stall steht, bekommt es trotzdem ein "D" für Deutschland als Mastland.
Auch die hierzulande seit Juli 1998 praktizierte freiwillige Etikettierung von Rindfleisch läuft nicht reibungslos. Erst seit September 1999 gibt es eine funktionierende Computerdatenbank, in der alle 15 Millionen deutschen Wiederkäuer erfasst sind. Bis dahin waren Rückverfolgungen vom Teller zum Stall bestenfalls Glückssache. Und auch heute kann man Überraschungen erleben, wie folgende Einkaufstests des stern beweisen:
Test 1: Hüftsteak. Gekauft am 9.11. aus der Fleischtheke eines Supermarktes. Auf Anfrage teilt der Metzger die Daten mit: Viermal "D" für Geburt, Mast, Schlachtung und Zerlegung in Deutschland, Identitätsnummer 421020138. NFZ Bad Bramstedt. Ein Anruf bei der NFZ ergibt: Die Nummer ist eine so genannte Chargennummer. Nach EU-Recht darf die "Tagesproduktion" eines Schlachtbetriebes unter einer Nummer zusammengefasst werden. In diesem Fall waren das 63 Tiere von 23 Bauern aus Schleswig-Holstein.
Test 2: Ökorinderbraten. Gekauft am 9.11., fertig verpackt aus der Truhe. Aufdruck: Rewe Handelsgruppe Köln, Nummer 258B604312. Anruf bei Rewe: Charge von 36 Tieren aus zwei Höfen bei Cottbus.
Test 3: Hackfleisch "halb und halb". Gekauft am 10.11. aus der Tiefkühltruhe. Aufdruck: vier eingekreiste D mit Nummern. "Tillman's Fleisch, Herzebrock". Die Telefonnummer der Firma ist über die Auskunft und sogar über das Gewerbeamt in Herzebrock nicht zu finden. Nach zwei Stunden Recherche schließlich Anruf bei der Firma Tönnies in Rheda, zu der Tillman's gehört. Die eingekreisten D und die Nummern "besagen gar nichts". Das seien lediglich die Ordnungsnummern der Schlachthöfe. Man würde zwar nur "Fleisch aus Deutschland" verarbeiten, aber "das schreiben wir nicht drauf, weil wir das nicht müssen".
Bei der Frankfurter Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) hält man das Hackfleisch unbekannter Herkunft mit seinen vier "D" zwar für "irreführend" etikettiert, aber ganz sicher ist man sich nicht. Denn beim Hackfleisch gelten viele Ausnahmen. Das weiß man auch im Bundeslandwirtschaftsministerium. Fachabteilungsleiter Hermann Schlöder: "Es kommt darauf an, was beim Hackfleisch 'halb und halb' die größere Hälfte ist." Überwiegt das Schwein, muss nicht etikettiert werden. Außerdem, so das BLE, sei die EU bis vor kurzem noch der Meinung gewesen, nur "reines Rinderhack" müsse gekennzeichnet werden. Und schließlich, grübelt das BLE weiter, "könnte man auch ein paar Körnchen Salz dazutun, dann gilt es als verarbeitet und fällt auch nicht mehr unter die Etikettierungsverordnung".
Die Tragikomödie ums Hackfleisch ist typisch. Kuddelmuddel und undurchschaubarer Paragrafendschungel, wohin man auch sieht. Nicht weniger als 263 freiwillige Etikettierungssysteme und Herkunftsnachweise haben sich mittlerweile in Deutschland breit gemacht. Ihre Produkte werden über rund 12000 Verkaufsstellen angeboten. Die Systemanbieter werden von 36 dafür zertifizierten Privatfirmen kontrolliert, laut Vorschrift nur einmal im Jahr. Seit Juli 1998 gingen beim BLE 2441 Mängelberichte mit insgesamt 4470 Beanstandungen ein. Davon seien 2273 Berichte "bereits ausgewertet". Meist handle es sich "lediglich um Formfehler", so das BLE zum stern, "für die u.a. Verwarnungen ausgesprochen wurden". Über die Zahl der "schwerwiegenden Mängel" schweigt man sich aus.
Nun hat die EU auch Deutschland vorgeschrieben, die verpflichtende Etikettierung wieder von staatlichen Stellen kontrollieren zu lassen. Entsprechende "Allgemeine Verwaltungsvorschriften" werden allerdings erst "vorbereitet", so das BLE. Dabei gilt die EU-Etikettierungspflicht bereits seit dem 1. September.
Aber vielleicht kommt der ganze Rummel um den Herkunftsnachweis viermal "D" wie Deutschland auch längst zu spät. Im August gaben es 50 unabhängige Wissenschaftler den Deutschen schriftlich. In einem Gutachten im Auftrag der EU stellten sie fest: "Der wissenschaftliche Lenkungsausschuss kam zu dem Schluss, dass das Vorliegen von BSE in Italien, Spanien und Deutschland unterhalb der Nachweisgrenzen der Überwachungssysteme dieser Länder wahrscheinlich ist." Im Klartext: Auch hierzulande haben Rinder vermutlich BSE, sie werden nur nicht als krank erkannt und gelangen deswegen in die Nahrungskette. An der Einführung von BSE-Schnelltests für jedes Rind führt kein Weg mehr vorbei.
Georg Wedemeyer, Mitarbeit: Albert Eikenaar
SP deutsch
PO Deutschland