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AU anonym
TI Die Entfesselung der Prionen
QU Geo 1996 Mai: 155
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Den rätselhaften Erreger-Typus des Rinderwahnsinns und der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung gibt es seit Jahrhunderten. Erst der Mensch hat ihn zu einer Bedrohung gemacht
Dies ist die Geschichte eines tödlichen Erregers.
Er ist so mysteriös, dass sein "Entdecker", der US-Neurologe Stanley Prusiner, für ihn eine neue Klasse definieren mußte: "Prionen". Sie befallen ausschließlich das Gehirn und töten Menschen, Rinder, Schafe und andere Tiere. Sie werden vererbt, können aber auch spontane Infektionen auslösen. Sie sind von der körpereigenen Abwehr nicht angreifbar, unglaublich widerstandsfähig, überleben kochendes Wasser, Desinfektionsmittel, Sterilisation, UV-Licht und für herkömmliche Erreger tödlich wirkende Röntgenstrahlung. Und infiziertes Hirngewebe erweist sich nach zwei Jahren als immer noch ansteckend.
Universitätsklinik Göttingen, Neuropathologie. In den Regalen schwimmen etwa 180 Gehirne in milchig-trüben Plastikeimern. "Routinefälle", sagt der Arzt Armin Giese - Hirninfarkte, Tumore, Blutungen. Aber in Sektionsraum 2 hüllen sich Giese und sein Kollege Walter Schulz-Schaeffer von Kopf bis Fuß ein - Mundschutz, Kopfhaube, Schutzbrille. Über die OP-Fingerlinge zieht Schaeffer gelbe Handschuhe aus Kevlar-Fasern - reißfestes Material, aus dem sonst kugelsichere Westen hergestellt werden. Ein Schnitt in den Finger könnte tödlich sein. In einem Plastikeimer liegt das konservierte Gehirn einer 69jährigen Frau: Verdacht auf Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (international kurz CJD genannt). Schulz-Schaeffer schneidet das beigefarbene Organ in zentimeter-dicke Scheiben. Großhirnrinde und das darunter liegende Kleinhirn sehen, typisch für CJD, unauffällig aus. Erst unter dem Mikroskop bestätigt sich der Verdacht: Wo früher Abermillionen Nervenzellen das Leben steuerten, klaffen nun weißliche Löcher, wie bei einem Schwamm. Dazwischen rötliche Klumpen abgelagerten Proteins. Immer neue Gehirnschnitte bearbeitet Armin Giese - stets von anderen Opfern. Hat er schon lebende CJD-Kranke gesehen? "Ja". Wie viele? "Einer genügt." Die Göttinger Prion-Forschungsgruppe erfaßt seit zwei Jahren bundesweit alle gemeldeten CJD-Verdachtsfälle. Auch europaweit wird die Krankheit epidemiologisch registriert.
Denn seit Ausbruch des "Rinderwahnsinns" (bovine spongiforme Enzephalopathie, kurz BSE), der Prion-Erkrankung der Rinder, geht die Angst vor Ansteckung durch infiziertes Fleisch um. Mitte März hat die britische Regierung erstmals eingeräumt, dass der BSE-Erreger durch Fleischverzehr womöglich auf den Menschen übertragbar sei. Die CJD beginnt mit einer schleichenden Wesensveränderung: Interesselosigkeit, sozialer Rückzug. Manche Patienten werden leicht wütend, andere weinen viel. Dann versagt der Gleichgewichtssinn, es kommt zu Stürzen - Folge der Zerstörung des Kleinhirns. Schließlich läßt der Verstand rapide nach - die Zellen im Großhirn sterben ab. Binnen Wochen wissen die Betroffenen nicht mehr, ob Tag oder Nacht ist. Sie erkennen keinen Angehörigen mehr, verlaufen sich in der eigenen Wohnung. Am Ende stehen Lähmungen, Muskelzucken, Halluzinationen, Starrheit, Koma, Tod. CJD gilt als extrem selten - im Durchschnitt erkrankt pro Jahr nur einer unter einer Million Menschen. Bislang waren fast alle Patienten älter als 60 Jahre. Doch schon 1995 stimmten Hans Kretzschmar, den Leiter der Göttinger Arbeitsgruppe, die Fälle zweier erkrankter britischer Teenager nachdenklich. Sie genügten allerdings noch nicht, um in den epidemiologischen Daten als "signifikant" aufzufallen. Diese Signifikanz gilt als oberstes Gebot eines Beweises. Doch im März berichtete Bob Will von der University of Edinburgh von zehn neuen Fällen, die "zu großer Besorgnis" Anlaß geben.
Richard Lacey hält das Risiko einer Masseninfektion mit BSE für wahrscheinlich.
Und es scheint sich um eine neue Prion-Erkrankung des Menschen zu handeln, die sich von der bisher bekannten CJD in fünf wesentlichen Punkten unterscheidet:
* Die Patienten starben schon mit durchschnittlich 30 Jahren;
* die Krankheitsdauer betrug durchschnittlich 14 statt nur sechs Monate;
* die meisten der Betroffenen waren schon zu Beginn psychiatrisch auffällig;
* die Prion-Ablagerungen im Gehirn waren ungewöhnlich;
* die jungen Patienten zeigten keine veränderten Hirnströme, was sonst bei 80 Prozent der CJD-Kranken vorkommt.
"Das ist ganz was Neues", sagt Kretzschmar, und "ein Zusammenhang mit dem Rinderwahnsinn ist nicht von der Hand zu weisen." "Wer Rindfleisch ißt", sagt der Mikrobiologe Richard Lacey von der Leeds University, "läuft ein 13fach höheres Risiko, an CJD zu sterben." Eine CJD-Epidemie im nächsten Jahrhundert sei "real". Bei Tieren sind bislang sechs unterschiedliche Prion-Erkrankungen bekannt.
Die bei Schafen auftretende "Scrapie" wurde schon 1730 beschrieben; der Name ist vom englischen "scrape" (kratzen) abgeleitet - weil sich die Tiere die Wolle bis auf die Haut abscheuern. Seither haben Mediziner vier Prion-Erkrankungen beim Menschen entdeckt.
Neben CJD, erstmals 1921 von den deutschen Neurologen Hans-Gerhard Creutzfeldt und Alfons Jakob beschrieben, das "Gerstmann-Sträussler-Scheinker-Syndrom" (GSS) und die erst jüngst erkannte " Tödliche Familiäre Schlaflosigkeit " (FFI), beide erblich.
Doch erst die vierte sollte in den fünfziger Jahren den wissenschaftlichen Kampf gegen die Prion-Krankheiten einläuten: Fernab jeder Zivilisation im Hochland-Dschungel von Papua-Neuguinea entdecken Forscher, unter anderen der deutsche Arzt Vincent Zigas, beim Volk der Fore das "Kuru-Syndrom" - den "Lachenden Tod". Sie registrieren, dass von dieser Krankheit jene befallen werden, die in einem makaber anmutenden Bestattungsritual die Hirne von Verstorbenen verspeisen.
Offenbar aber kommt es auch vor, dass der noch unbekannte Erreger durch winzige Hautwunden in den Körper eindringt. Der später für seine Leistungen mit dem Nobelpreis dekorierte US-Virologe Carlton Gajdusek spürt als erster auffällige Ähnlichkeiten zwischen Kuru und Scrapie auf. Nachdem im Labor die Übertragung von Scrapie auf Mäuse und Ziegen geglückt ist, versucht Gajdusek 1966, Kuru auf Schimpansen zu übertragen. Er infiziert die Affenhirne mit Gehirngewebe von Fore-Leuten, die an Kuru gestorben sind. Sechs Monate später sind alle Tiere tot: der Nachweis, dass die Kuru-Krankheit übertragbar ist. Die Experten sind nun überzeugt, dass sie es mit neuen, tödlichen Viren zu tun haben. Doch es gelingt nicht, in Scrapie-, CJD- oder Kuru-Gehirnen Nukleinsäuren zu finden, die für das Erbmaterial von Viren typisch sind. Jahre vergehen. 1972 stößt der 29jährige Stanley Prusiner von der University of California in San Francisco auf die Beschreibung eines merkwürdigen Phänomens: Scrapie-Hirnextrakte, die britische Pathologen mit UV- und Röntgenstrahlen beschossen hatten, waren infektiös geblieben. Normalerweise hätte das "Bombardement" jedes Erbmaterial zerstören oder zumindest schädigen müssen. Sollte der Erreger gar keine Erbsubstanz enthalten, er mithin kein Virus oder Bakterium sein? Schon Ende der sechziger Jahre hatte der englische Molekularbiologe John Griffith einen Infektionsmechanismus beschrieben, bei dem ein körpereigenes, eigentlich harmloses Protein seine Form verändert und zum Killer wird. Ansteckung durch ein Eiweißmolekül? Blasphemie für gestandene Mikrobiologen. Ernst nimmt die Theorie nur Prusiner. 1982 gelingt es seinem Team, aus Gehirnen Scrapie-infizierter Hamster das "infektiöse Agens" zu isolieren. Tatsächlich widersteht es allen Verfahren, die Erbmaterial zerstören, nicht aber solchen, die Proteine schädigen. Den revolutionären Erregertypus tauft Prusiner "Prionen" (proteinaceous infectious agent, eiweißhaltiges infektiöses Agens). Wenige Monate später isolieren die Prusiner-Leute ein Eiweiß, aus dem der Erreger offenbar besteht - das "Prion-Protein". Die Fachwelt läuft Sturm: Infektionen, lautet das Dogma, sind unmöglich, ohne daß sich Erreger vermehren - ohne genetische Information aber funktioniert keine Vermehrung. Auch nicht die eines Proteins. Woher wollte Prusiner wissen, dass seine Extrakte nicht doch ein besonders widerstandsfähiges Virus enthielten? Dann aber entschlüsseln zwei renommierte Forscherteams den Aminosäure-Aufbau des Prion-Proteins. Ist die Zusammensetzung eines Eiweißes bekannt, läßt sich der genetische Code ableiten, der zu dessen Produktion nötig ist. So folgt die nächste Überraschung. Statt auf ein Virus-Gen, das die Information für das tödliche Protein birgt, stoßen die Forscher auf ein Gen, das in jeder Zelle des Menschen und anderer Wirbeltiere vorkommt. Am stärksten produziert der Organismus das Protein in den Nervenzellen des Gehirns. Am Morgen des 25. April 1985 rückt die Arbeit der "Prion-Verfechter" unverhofft in das Interesse der Weltöffentlichkeit. Der Veterinär Colin Whitaker untersucht in der englischen Grafschaft Kent die Milchkuh eines Farmers. Das sonst friedliche Tier reagiert beim Melken aggressiv, zittert, bleckt die Zähne, wankt unsicher und springt beim leisesten Geräusch vor Schreck in die Luft. "Verdacht auf Gehirntumor", hält Whitaker fest. Wenige Wochen später stirbt die Kuh, eine Obduktion findet nicht statt. Whitaker vergißt den Fall. Bis zum Januar 1986. Da erkranken auf derselben Farm mehrere Kühe an den gleichen Symptomen. Blutproben gehen an Fachlabors - Befund negativ. Die Tiere verenden binnen Wochen. Dem Veterinär dämmert, dass er es mit "irgendeiner neuen Krankheit" zu tun hat - ähnlich der Scrapie. Als Spezialisten die Gehirne der Rinder aufschneiden, finden sie statt der Nervenzellen Löcher - wie bei einem Schwamm. Die erfolgreiche Infektion von Mäusen mit Hirngewebe toter Rinder bestätigt 1988 den Verdacht: Die Forscher haben es mit einer neuen Prion-Krankheit zu tun - BSE. Bis heute sind in England mindestens 160000 Rinder an der Seuche gestorben. Der britische Forscher Harash Narang fand bei Untersuchungen in einem Schlachthaus heraus, dass womöglich ein Drittel der für den Markt produzierten Rinder mit BSE verseucht sei. Die Ansteckungsquelle ist schon in den achtziger Jahren gefunden: In einer unglückseligen Kooperation mit der Industrie schrecken die Bauern nicht davor zurück, das vegetarische Rind zum Fleischfresser zu manipulieren. Um die Kälber schneller der Muttermilch zu entwöhnen, füttert man sie mit eiweißhaltigem Mehl aus Tierabfällen - unter anderem aus Kadavern Scrapie-infizierter Schafe. So springt der Scrapie-Erreger auf das Rind über. Offiziell wird in Großbritannien die Verfütterung von Tiermehl an Wiederkäuer daraufhin 1988 verboten. Doch jetzt fürchten Millionen Liebhaber von Steaks und Burgern: Ist BSE auf den Menschen übertragbar? Und plötzlich wird der angefeindete Prusiner zur treibenden Kraft in der weltweiten Prion-Forschung. Der nächste Durchbruch gelingt, als Prusiners Team 1990 auf Mutationen im menschlichen Prion-Gen stößt, die offenbar Creutzfeldt-Jakob und GSS verursachen. Es gelingt, ein Prion-Gen mit der GSS-Mutation Mäusen einzupflanzen, bei denen daraufhin GSS ausbricht. Auch die Übertragung von Hirngewebe erkrankter Tiere führt zur Infektion - ohne erkennbare Virusbeteiligung. Die entscheidende Frage aber bleibt: Wie kann sich das tödliche Prion-Protein im infizierten Organismus ohne Erbsubstanz vermehren und die Nervenzellen befallen? Prusiner vermutet: Die abnorme Prion-Variante könne ihre gesunden Nachbarn in eine tödliche Form verwandeln - eine Art molekulare Diktatur. Die abenteuerliche Theorie wird wahrscheinlicher, als Prusiners Team zwei unterschiedliche Strukturen des Proteins entdeckt. Das normale Eiweiß-Molekül, von der Gestalt einer Wendeltreppe, ist harmlos: Die Nervenzelle erzeugt es ständig, und Enzyme bauen es wieder ab. Wozu es dient, ist bis heute rätselhaft: Mäusen, denen man das Gen für dieses Protein entfernt, leben unbehelligt weiter. Doch die zweite Molekülform, eine Art Wellblech-Struktur, erweist sich als resistent gegen die spaltenden Enzyme. Berührt ein entartetes "Wellblech" eine "Wendeltreppe", wird diese instabil - und faltet sich ebenfalls zu Wellblech. Eine Kettenreaktion, die das Gehirn schließlich wie eine Lawine überrollt: Die Prion-Wellblechproteine verklumpen und häufen sich wie Müll in die Nervenzellen, bis diese absterben. Und die Nervenzellen liefern stets Zellprotein nach, das in die gefährliche Form übergeht - bis zum tödlichen Ende. Allerdings scheint das entartete Prion-Protein bevorzugt normales Zellprotein gleicher Zusammensetzung zu "bearbeiten" - also vor allem, wenn es von derselben Spezies stammt. Prusiner: "Je mehr der Molekül-Bauplan des jeweiligen Prion-Proteins dem des zellulären Proteins des Wirtes gleicht, desto wahrscheinlicher bricht die Krankheit aus." So ließe sich erklären, warum die Prionen infizierter Schafe auf Rinder überspringen konnten: Die Baupläne des harmlosen Proteins beider Spezies unterscheiden sich in nur sieben Aminosäure-Bausteinen. Die Scrapie-Prionen können das Rinderprotein also relativ leicht umfalten. Die entsprechenden Eiweiße von Rind und Mensch dagegen variieren in mehr als 30 Positionen. Andererseits: Nur bestimmte Abschnitte des Proteinmoleküls scheinen bei der fatalen Verwandlung eine Rolle zu spielen.
Angesichts der neuen Entwicklung gewinnt diese Erkenntnis an Bedeutung. Allen Indizien zum Trotz glauben manche Forscher noch immer, dass Viren am bösen Spiel beteiligt sind. So vermutet der Virologe Heino Diringer vom Berliner Robert-Koch-Institut unterm Elektronenmikroskop im Prion-Protein von Scrapie-infizierten Hamstern und CJD-Opfern "virusähnliche Partikel". "Sollte es sich dabei um den Erreger handeln", mutmaßt Diringer, "wäre er viel kleiner als alle bisher beschriebenen Viren." Erbsubstanz kann der Forscher aber nicht nachweisen. Virus oder nicht - "Prion-Protein" ist die zentrale Komponente des Erregers", urteilt der britische Experte John Collinge. Die Erkenntnis könnte die Chance bergen, die tödliche Gehirninfektion irgendwann zu stoppen: Mäuse, denen der Züricher Prion-Forscher Charles Weissmann das entsprechende Gen entfernte - die also kein Protein mehr erzeugen, das durch Prionen umfaltbar wäre -, sind gegen die Krankheit immun. Weissmann: "Wenn es gelingt, die Synthese des normalen Proteins zu hemmen - etwa durch Gen-Blocker -, könnte man bei rechtzeitiger Diagnose zumindest den fortschreitenden Gehirnzerfall aufhalten."
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OR Prion-Krankheiten 9