Dokumentation: "Wie unser Gehirn entsteht" (pdf)

Roland Heynkes, 5.9.2014

Diese Internetseite liefert eine kritische Zusammenfassung der dritten Folge: "Wie unser Gehirn entsteht" der vierteiligen BBC-Dokumentation: "Michael Mosley - Was ist der Mensch". Sie soll Lernenden klarmachen, wieviele Informationen man einem Film entnehmen könnte und wie kritisch man die Aussagen jeder Quelle mit Hilfe eigenen Wissens auf Plausibilität hin überprüfen sollte. Jedes Buch, jede Fernsehdokumentation und jede naturwissenschaftliche Publikation liefert immer nur Diskussionsbeiträge und Denkanstöße, die man niemals einfach unkritisch als letzte Wahrheiten betrachten sollte. Immer sind unsere eigene Intelligenz und eine gehörige Portion Skepsis gefragt. Der folgende Link führt zu Beschreibungen und Ausschnitte des englischen Originals: "Building Your Brain.

In der dritten Schwangerschaftswoche besitzt ein menschlicher Embryo noch keinen Schädel und lässt auch keine typisch menschlichen Formen erkennen. Sein Gehirn ist aber schon verhältnismäßig groß und wirkt bereits zweigeteilt. Noch im Mutterleib sollen in ihm pro Sekunde 8000 neue Gehirnzellen entstehen. Am Ende der Kindheit soll es ungefähr 100 Milliarden Gehirnzellen enthalten. Das Oberstufen-Biologiebuch Markl gibt an, dass ein menschliches Gehirn etwas 100 Milliarden Nervenzellen enthalte. Die Zahl der Hirnzellen ist wesentlich größer, weil die meisten Hirnzellen keine Nervenzellen sind, sondern Gliazellen. Die Professorin Pollerberg im Institut für Zoologie der Heidelberger Universität meint, das Gehirn eines erwachsenen Menschen enthalte etwa 200 Milliarden (2x1011) Neurone und dazu noch etwa eine Trillion (1012) unterstützende Zellen (Gliazellen). Außerdem schreibt sie, dass während der Embryonalentwicklung (Embryogenese) des Menschen pro Minute durchschnittlich 250.000 neue Nervenzellen entstehen. Das wären nicht einmal 4200 pro Sekunde. Schon dieser kleine Quellenvergleich zeigt uns, mit wieviel Vorsicht Zahlenangaben in der Biologie zu genießen sind.

Erstaunlicherweise behauptet die BBC-Dokumentation, das menschliche Gehirn enthalte schon bei der Geburt alle Gehirnzellen, die es jemals brauchen würde. Ich habe erhebliche Zweifel an dieser Aussage, weil das Gehirn eines Kindes noch lange wächst und weil selbst im Gehirn eines Erwachsenen noch ständig neue Nervenzellen entstehen.

Wenig erfreulich verlief im Film die Geburt eines Mädchens. Die liegende Haltung der Mutter erschwerte die Geburt und das viel zu grelle Licht blendete das Baby. Außerdem stützte die Hebamme nicht den Kopf des Neugeborenen, obwohl dessen Kopf noch viel zu schwer für seine schwache Nackenmuskululatur ist.

Neugeborene können anfangs noch nicht scharf sehen. Sehr unwahrscheinlich erscheint aber die Behauptung des Films, die Augenlinse könne noch nicht richtig scharf stellen. An der noch maximalen Flexibilität der Augenlinse kann es nicht liegen. Sollte die Ursache tatsächlich im Auge liegen, dann könnten nur die Muskeln im Ziliarkörper dafür verantwortlich sein, die durch mehr oder weniger starken Zug an den Linsenbändern die Brechkraft der Augenlinse einstellen. Ich vermute das Problem aber eher im Gehirn, das erst lernen muss, welche Ziliarmuskelspannung zu scharfen Bildern führt. Dafüt spricht auch die Aussage des Films, dass ein Baby das Gesicht seiner Mutter schon nach wenigen Stunden erkennen könne. So schnell kann keine Augenlinse reifen und kein Muskel wachsen, aber ein menschliches Gehirn kann durchaus so schnell lernen.

Entgegen der Aussage des Films befinden sich die Lichtsinneszellen des Auges nicht hinter, sondern in der Netzhaut. Sie ragen nur in die dahinter liegende Pigmentschicht (Pigmentepithel) hinein. Korrekt ist aber die Unterscheidung zwischen lichtempfindlicheren Stäbchen und drei Sorten wesentlich weniger lichtempfindlicher Zapfen, die auf unterschiedliche Lichtfarben maximal reagieren und dadurch bei ausreichender Beleuchtung unser Farbensehen ermöglichen. Die meisten anderen Säugetiere sehen die Welt deutlich weniger farbig als wir, Fische und Vögel, weil sie nur zwei Sorten von Zapfen besitzen. Im Dunkeln und in der Dämmerung können wir hingegen nicht farbig sehen, weil wir nur eine Sorte von Stäbchen besitzen. Diese sollen aber so emfindlich sein, dass einem Fötus für erste Seheindrücke schon das sehr schwache Licht ausreicht, dass durch den Bauch der Mutter in seine Augen gelangt.

Wird ein Bild unserer Umwelt auf unsere Netzhaut projeziert, dann erstreckt es sich über sehr viele Lichtsinneszellen, von denen jede nur von einem kleinen Teil der Gesamtinformation zum Gehirn schicken kann. Darum kann das Bild erst im Gehirn zusammengesetzt und wahrgenommen werden.

Wieder falsch ist die Behauptung des Films, die Zapfen gruppierten sich hinter der Netzhaut, zu dem Buckel, den man im Deutschen als gelben Fleck und in der Fachsprache als Fovea centralis bezeichnet. Genau wie die vor bzw. über ihnen liegenden Nervenzellen sind auch die Lichtsinneszellen Bestandteile der Netzhaut. Vermutlich korrekt ist hingegen die Aussage, dieser an einen Vulkankrater erinnernde gelbe Fleck sei erst nach etwa 4 Jahren ausgewachsen. Unten im Krater haben wir nur Zapfen und jeder von ihnen sendet seine Signale zum Gehirn, während sich weiter außen in der Netzhaut immer mehrere Lichtsinneszellen eine Nervenfaser zum Gehirn teilen müssen. Deshalb ist der gelbe Fleck der Ort unseres schärfsten und farbigsten Sehens, an dem wir aber wegen der fehlenden Stäbchen nachts praktisch blind sind.

Man könnte es leicht nachprüfen, aber es ist wohl korrekt, dass wir bis zu 20 Mal pro Minute blinzeln. Weil wir das normalerweise mit beiden Augen gleichzeitig tun, haben wir täglich mehr als 1 Stunde aufgrund des Blinzelns die Augen geschlossen. Gewöhnlich bemerken wir das und unsere blinden Flecken gar nicht, weil unser Gehirn fehlende Bilder oder Bildausschnitte einfach ergänzt. Die Dokumentation erwähnt es zwar nicht, aber mit Hilfe im Gedächtnis gespeicherten Wissens über die Farben bekannter Gegenstände korrigiert das menschliche Gehirn auch die Verfälschung der Farben durch wechselnde Beleuchtungssituationen (Lichtfarbe/Farb-Spektrum).

Menschliche Gehirne können lernen, Körperteile zu kontrollieren, die wir normalerweise nicht bewußt beeinflussen können. Anstatt wie wir in der Dunkelheit des Meeres die Pupillen weit zu öffnen und dadurch die unter Wasser ohnehin reduzierte Sehschärfe noch weiter zu verringern, überwinden thailändische Meeresnomaden (Moken) den normalen Pupillenreflex und schließen unter Wasser ihre Pupillen maximal. Dadurch können sie unter Wasser erheblich schärfer sehen und jagen, als wir es ohne Taucherbrillen könnten. Neuere Untersuchungen legen nahe, dass jedes Kind diesen Trick lernen könnte.

Erstaunlicherweise behauptet die BBC-Dokumentation, das Säuglingsgehirn beschränke sich noch auf sehr einfache Aufgaben. Das entspricht nicht mehr dem Stand der Forschung, denn Säuglinge lernen ohne Lehrer allein durch Zuhören und Nachdenken ihre Muttersprache. Was Säuglinge tatsächlich noch kaum können, ist die Kontrolle ihrer Körper-Funktionen. Man muss das aber nicht unbedingt als Unfähigkeit des jungen Gehirns deuten. Vielleicht wurde im Verlauf der menschlichen Evolution die Geschwindigkeit der Reifung zugunsten einer Entwicklung höherer geistiger Fähigkeiten reduziert. Naturwissenschaftlich denkende Menschen sollten das Wissen um die Lücken und Unsicherheiten ihres Wissens der trügerischen Sicherheit nur vermeintlich gesicherten Wissens vorziehen. Denn man hört auf zu forschen und zu denken, wenn man eine Frage für bereits endgültig beantwortet hält.

Eindeutig falsch - möglicherweise aufgrund eines Übersetzungsfehlers - ist die Aussage des Films, jede Gehirnzelle stelle rund 10.000 Verbindungen mit anderen Zellen her. Denn die meisten Hirnzellen sind Gliazellen, die sich nicht wie die Nervenzellen verbinden. Auch unter den Nervenzellen stellt längst nicht jede soviele Verbindungen her. Tatsächlich gibt es ein breites Spektrum von wenig bis extrem stark vernetzten Nervenzellen. Später im Film wird auch gesagt, dass unser Gehirn bis zum Alter von einem Jahr mehr als 500 Milliarden Verbindungen hergestellt habe. Das wären nicht 10.000, sondern nur 5 mal 2 Verbindungen pro Nervenzelle. Sehr unterschiedlich sind auch die Angaben verschiedener Quellen. So nennt das Oberstufen-Biologiebuch Markl als durchschnittliche Anzahl mit einer Nervenzelle vernetzter anderer Neuronen den um immerhin eine ganze Größenordnung niedrigeren Wert 1000.

Es ist wohl etwas spekulativ, wenn der Film erklärt, was ein 6 Monate alter Säugling glaubt und denkt. Man kann aber tatsächlich beobachten, dass Kleinkinder im Verlauf ihrer ersten Lebensjahre die Welt und die Naturgesetze immer besser zu verstehen lernen. Und wenigstens während des ersten Lebensjahres ist das kindliche Gehirn dabei so flexibel, dass eine Großhirnhälfte die Aufgaben der anderen fast vollständig übernehmen kann, wenn diese wegen einer schweren Krankheit entfernt werden muss. Mit hartem Training gelingt vergleichbares in einem erstaunlichen Ausmaß aber auch erwachsenen Schlaganfall-Patienten. Der Film zeigt das beeindruckende Beispiel eines Bergsteigers, der als Jugendlicher erblindete. Eine Kamera auf seiner Brille überträgt Bilder an einen kleinen Computer an seinem Gürtel. Er reduziert die Auflösung und übertägt die Bilder auf ein Zungendisplay. Dessen auf die Zunge gelegte Platte trägt Hunderte von winzigen Kontaktpunkten, die kleine elektrische Spannungen auf die Zunge übertragen. Jahrzehnte nach seiner Erblindung hat sein Gehirn gelernt, die von seiner Zunge gemeldeten Signale in Bilder zu übersetzen.

Obwohl das Kleinhirn nur rund ein Zehntel der Masse des Großhirns besitzt, enthält es etwa die Hälfte aller Nervenzellen des zentralen Nervensystems (Zentralnervensystem). Es ist für die schwierige Koordination unserer Bewegungsabläufe zuständig. Normalerweise dauert es ungefähr ein Jahr, bis ein Kleinkind laufen lernt. Aber im nördlichen Hochland von Kamerun trainieren Mütter den normalerweise nach einigen Monaten verschwindenden Schreitreflex ihrer Kinder ab dem ersten Lebensmonat so intensiv, dass er nicht verschwindet und sich zu einem richtigen Gehen entwickelt. Schon im Alter von 7 Monaten lernen diese Kinder, selbst aufzustehen.

Eindrucksvoll zeigt der Film, wie in den Ampullen der drei Bogengänge des menschlichen Gleichgewichtsorgans sowie in der Schnecke des Innenohrs feinste Sinneshärchen durch sich bewegende Flüssigkeit verbogen werden und darauf mit der Aussendung eines Nervensignalen an das Gehirn reagieren.

Typisch für BBC-Dokumentationen sind nicht nur eindrucksvolle Darstellungen, sondern leider auch reißerische und oft von angeblichen Superlativen strotzende Texte. Auch in diesem Film werden so nicht wirklich existierende Einzigartigkeiten des Menschen betont. So wird behauptet, nur der Mensch besitze die Fähigkeit zu sprechen. Dabei ist lange bekannt, dass Graupapageien sinnvolle Antworten in menschlicher Sprache geben und Menschenaffen Gebärdensprachen lernen können. Wir Menschen haben unsere Sprachen nur besonders weit entwickelt und nutzen sie besonders intensiv. Wichtig ist das Beispiel eines elfjährigen Mädchens, dass sich für Sprachen interessiert und sich inzwischen in 11 Sprachen unterhalten kann. Es zeigt uns, wieviel wir lernen können, wenn uns etwas interessiert. Normal interessierte Kinder lernen jährlich immerhin mehr als 1000 neue Wörter, sodass sie als Teenager schon die Bedeutung von mehr als 10.000 Wörtern kennen.

Sehr schön zeigt der Film den Weg der Schallwellen durch einen menschlichen Gehörgang und wie sie das Trommelfell sowie die dahinter liegenden winzigen Knochen des Mittelohrs in Schwingungen versetzen. Der mit dem Trommelfell verwachsne Hammer überträgt die Schwingungen auf den sogenannten Amboss, der wiederum den Steigbügel genannten kleinsten Knochen des Menschen bewegt. Allerdings ist nicht nur der Steigbügel mit einem Muskel verbunden, sondern auch der Hammer. Diese winzigen Muskeln bremsen die Schwingungen der Knöchelchen, wenn die Schwingungen zu stark sind und das Innenohr gefährden könnten. Die Mittelohrknöchelchen verstärken durch Hebelwirkung die Kraft der Schwingungen auf Kosten ihrer Amplitude. Außerdem wird ihr Druck dadurch verstärkt, dass die Schwingungen vom großen Trommelfell auf das viel kleinere ovale Fenster zum Innenohr übertragen wird.

Im Innenohr wandern die Schallwellen durch die Hörschnecke (Cochlea) bis zu deren Spitze und auf der Rückseite wieder zurück bis zum runden Fensteran der Grenze zum Mittelohr. Unterwegs versetzt jede Schwingung den Teil einer Membran in Schwingungen, der sich mit genau ihrer Frequenz anregen lässt. Die Härchen darunter liegender Hörsinneszellen werden dadurch verbogen, wodurch sich Ionenkanäle öffnen und ein elektrisches Signal erzeugen, dass durch den Hörnerv zum Gehirn geleitet wird. So können wir etwa 30.000 Tonhöhen unterscheiden. Am empfindlichsten reagieren unsere Ohren auf Töne in der Tonlage unserer Stimmen.

Während der Pubertät reifen nicht nur die sekundären Geschlechtsmerkmale des Körpers heran, sondern unser Gehirn verliert rund 40% der Verbindungen, die es bis dahin zwischen den Nervenzellen aufgebaut hatte. Das Gehirn trennt sich damit von ungenutzten Potentialen zugunsten einer größeren Effizienz. Dieser Umbau des Gehirns erfolgt von hinten nach vorne und zuletzt legt er den Teil des Stirnhirns lahm, in dem Kinder und Erwachsene spontane Ideen noch einmal überdenken und die Folgen eines Risikos abschätzen, bevor sie die Idee eventuell umsetzen. Deshalb folgen Jugendliche oft verrückten Ideen und gehen hohe Risiken, über die sie besser nochmal nachgedacht hätten. Das führt nicht selten zu Unfällen, aber vielleicht haben die Spontanität und Risikobereitschaft der Jugendlichen auch Vorteile für die menschliche Gesellschaft und bringen sie weiter. Möglicherweise belohnt sich deshalb das Teenager-Gehirn mit einem starken natürlichen Rauschgift für das Eingehen von Risiken.

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Roland Heynkes, CC BY-SA-3.0 DE

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