Lerntext Acetabularia
Roland Heynkes 22.3.2025, CC BY-SA-4.0 DE
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Dieser Hypertext soll möglichst verständlich erklären, was man zum Verständnis der Biologie über uralte Experimente mit Schirmalgen der Gattung Acetabularia wissen sollte.
Schirmalgen sind eine international Acetabularia genannte Gattung von Algen, die in tropischen und subtropischen Meeren leben. Es gibt eine ausführlichere und mir als Quelle dienende Beschreibung in der Wikipedia. Anfangs besteht Acetabularia aus nur einer Zelle mit nur einem großen, diploiden Zellkern. Je nach Spezies werden diese Zellen zwischen 0,5 und 10 Zentimetern groß. Wie der Name Schirmalge schon andeutet, bilden diese riesigen Zellen einen großen Schirm (Durchmesser 0,5-1,5 cm) auf einem Stiel, an dessen unterem Ende sich ein Rhizoid mit dem großen primären Zellkern befindet. Die Zellwand ist mehr oder weniger stark verkalkt. Das Cytoplasma mit zahlreichen zirkulierenden Chloroplasten und den anderen Organellen werden von einer großen Vakuole an den Rand gedrängt.
Schema einer Acetabularia-Alge |
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anonym, CC BY-SA 3.0 |
Das von Mariana Ruiz Villarreal gezeichnete und von mir deutsch beschriftete erste Schema des Acetabularia-Lebenszyklusses ist unvollständig und wird deshalb weiter unten durch ein zweites ergänzt. Der Lebenszyklus der einzelligen Meeres-Alge Acetabularia beginnt mit der Verschmelzung zweier haploider Geschlechtszellen (Gameten). Denn dadurch entsteht eine diploide Zygote mit einem neuen Bauplan. Im Gegensatz zu vielzelligen Organismen teilt sich die Zygote nicht, sondern sie wächst und bildet drei klar unterscheidbare Abschnitte. Um den Zellkern herum entsteht ein wurzelähnliches Rhizoid, aus dem heraus ein langer Stiel wächst, der oben einen großen Schirm bildet.
Schema des Acetabularia-Lebenszyklusses |
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Mariana Ruiz Villarreal, Public Domain Dedication |
Wenn die Zelle einen Schirm gebildet hat, entstehen durch eine Meiose genannte spezielle Form der Zellteilung aus dem großen diploiden (primären) Zellkern kleinere haploide (sekundäre) Zellkerne mit nur noch einfachem Chromosomensatz. Durch nachfolgende Mitosen (normale Zellkern-Teilungen) entstehen zahlreiche haploide Sekundärkerne, die nach oben in die Kammern des Schirms wandern. In jeder Kammer des Schirms finden weitere Mitosen statt und es entstehen zahlreiche dickwandige Zysten mit 20-50 Gameten. Diese besitzten jeweils 2 Geißeln für die Fortbewegung. Später setzt der Zerfall des Schirms die Zysten frei. Die Zysten können lange überdauern (Dauerstadium), bis sie durch günstige Lebensbedingungen aktiviert werden. Dann öffnet eine Zyste einen Deckel und entlässt die Gameten. Diese schwimmen dann zu einer Gamete des jeweils anderen Geschlechts und vereinigen sich mit ihr zu einer nun wieder diploiden Zelle (Zygote), die aufgrund der einzigartigen Kombination zweier haploider Genome zu einem diploiden Genom ein neues Lebewesen darstellen. Es bildet wieder ein Rhizoid und setzt sich auf einem geeigneten Untergrund (Substrat) fest. Abschließend wächst die Zelle heran, bis sie ihrerseits einen Schirm bildet.
Schema des Acetabularia-Lebenszyklusses |
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anonym, CC BY-SA 3.0 |
Eigentlich gilt die Zelle als kleinste lebensfähige Einheit. Das Überleben der Tochterzellen bei jeder Zellteilung zeigt jedoch, dass sich eine große Zelle in einem geordneten Prozess in zwei lebensfähige kleinere Zellen teilen kann. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass beide Tochterzellen alle lebensnotwendigen Bestandteile einer lebensfähigen Zelle bekommen. Die Tochterzellen befruchteter menschlicher Eizellen teilen sich sogar viele Male ohne zwischengeschaltetes Wachstum. So entstehen Hunderte lebensfähige Zellen aus einer großen Zelle. Unsere roten Blutkörperchen deuten jedoch darauf hin, dass eukaryotische Zellen ohne Zellkern nur noch wenige Monate überleben können. Denn ohne Baupläne können Zellen keine neuen Transkripte produzieren. Ohne neue Transkripte gibt es keine neuen Ribosomen, keine neuen tRNAs und keine neuen mRNAs für die Produktion neuer Proteine.
Die einzelligen Meeresalgen der Gattung Acetabularia überleben auch dann, wenn man sie völlig unvorbereitet in Stücke schneidet. Sogar Zellbruchstücke ohne Zellkern können einige Monate überleben und abgeschnittene Teile der Zelle regenerieren, sofern ihnen Licht als Energiequelle zur Verfügung steht. Sie können allerdings keinen neuen Zellkern erschaffen. Deshalb reicht in kernlosen Zellfragmenten der Vorrat an Transkripten und Proteinen nicht aus, um größere bereits regenerierte Zellbestandteile noch einmal zu ersetzen. (Donald E.Fosket - 2 The Genetic Basis of Plant Development in Plant Growth and Development 1994: 41-78)
In den 1930er Jahren nutzte Joachim Hämmerling diese besonderen Eigenschaften der Acetabularia-Algen für einige damals eigentlich wegweisende und dennoch weitgehend ignorierte Experimente aus:
Hämmerling selbst fasst seine Ergebnisse folgendermaßen zusammen: Die Ergebnisse früherer Arbeiten sind kurz auf S. 445 f geschildert. Die für diese Arbeit wichtigen Ergebnisse und Deutungen seien unter Hinweis auf die Zusammenfassungen am Ende der einzelnen Abschnitte in aller Kürze zusammengestellt:
Wenn das Rhizoid rechtzeitig vor der Meiose entfernt wird, dann besitzt die Zelle nach einer Amputation des Rhizoids keinen Zellkern mehr. Ohne Bauplan kann sich die Zelle nicht mehr vermehren. Trotzdem wächst aus dem Stiel ein neues Rhizoid. Unter günstigen Bedingungen kann die kernlose Zelle noch einige Monate überleben. Dann stirbt sie ab, weil sie ohne Zellkern keine neue Proteine mehr produzieren kann, sobald alle Transkripte abgebaut sind.
Schema einer Amputation des Acetabularia-Rhizoids |
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anonym, CC BY-SA 3.0 |
In einem Biologie-Buch werden die Neubildung des Rhizoids und das monatelange Überleben der kernlosen Zelle unterschlagen. Offenbar halten die Buchautoren das für eine didaktische Reduktion. Der Grund dafür dürfte sein, dass man den Zellkern für das Kontrollzentrum der Zelle und deshalb die Dauer des Absterbens der Zelle für ein unwichtiges Detail hält. Es ist aber alles andere als ein unwichtiges Detail, dass die Zelle auch ohne Zellkern noch lange weiterlebt und sogar ein neues Rhizoid bilden kann. Denn das erfordert Regulation, also Kontrolle. Dieser mißlungene Versuch einer didaktischen Reduktion verstellt also den Blick der Lernenden auf die Kontrollfunktion der Zelle außerhalb des Zellkerns, weil die Autoren das offensichtlich selbst nicht verstanden haben.
Amputiert man den Hut einer Acetabularia, dann bildet die Zelle einen neuen. Außerdem kann dann die Zelle ihren Lebenszyklus einschließlich Vermehrung vollenden. Heute bräuchte man dieses Experiment nicht mehr und es reicht auch nicht wirklich aus, um die Rolle des Zellkerns zu verstehen. Aber 1932 konnte man mit diesen beiden Experimenten zeigen, dass zumindest die Acetabularia-Zelle ohne Zellkern nur noch eine begrenzte Lebendauer hat und sich nicht mehr vermehren kann.
Schema einer Amputation des Acetabularia-Hutes |
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anonym, CC BY-SA 3.0 |
Anders als in der Wikipedia behauptet, kann nach einer Amputation des Hutes der Zellkern nicht den Befehl zur Ausschüttung morphogenetischer Stoffe geben. Der Zellkern kann nämlich weder von der Amputation des Hutes wissen, noch könnte er diese Information verarbeiten und darauf mit einem Befehl reagieren. Die Neubildung des Hutes kann auch nicht durch einen morphogenetischen Stoff initiiert werden, der sich durch Diffusion ausbreitet. Denn seine Konzentration müsste am Ort der Hutbildung einen Schwellenwert übersteigen, ab welchem die morphogenetischen Stoffe wirksam werden. Aber dann müssten die morphogenetischen Stoffe am Ort der Hutbildung entstehen, denn mit der Entfernung vom Ort ihrer Produktion nimmt bei reiner Diffusion ihre Konzentration ab. Das kann jedoch nicht sein, weil ja dieses Ende der Zelle abgeschnitten wurde. Zumindest die Transkripte und Proteine unter den morphogenetischen Stoffen entstehen im bzw. normalerweise in der Nähe des Zellkerns. In diesem Fall dürfte es also eher die Abwesenheit eines hemmenden Faktors sein, die zur Bildung eines neuen Hutes führt. Und ein solcher Faktor könnte im Hut produziert werden, damit jede Zelle nur einen Hut bildet.
Wenn verschiedene Bereiche einer Zelle oder eines Gewebes unterschiedlich agieren oder reagieren sollen, dann helfen ihnen morphogenetische Gradienten bei der Orientierung. Ein morphogenetischer Gradient ist das Konzentrationsgefälle eines Stoffes, der an einem Punkt gebildet wird und sich durch Diffusion mit stetig abnehmender Konzentration ausbreitet. In Abhängigkeit von seiner Konzentration können dann in verschiedenen Bereichen der Zelle oder des Gewebes unterschiedliche Vorgänge ablaufen. Diese Vorgänge können aber zusätzlichen Kontrollen unterliegen. So können Acetabularia-Algen am Ursprungsort des morphogenetischen Gradienten bei hoher Konzentration des Signalstoffes ein Rhizoid bilden und am anderen Ende des morphogenetischen Gradienten bei niedriger Konzentration des Signalstoffes einen Hut. Das passiert aber nicht, wenn bereits ein Rhizoid bzw. ein Hut vorhanden ist. Das Rhizoid und der Hut bilden also wahrscheinlich Stoffe, welche die Entwicklung weiterer Rhizoide bzw. Hüte verhindern.
Robert Wall meint 1973 in: "Advances in Morphogenesis" im Kapitel: "Physiological Gradients in Development - A Possible Role for Messenger Ribonucleoprotein", dass eine an ein schwefelreiches Protein gebundene RNA die morphogenetische Information transportiere. Wenn so ein mRNA-Protein-Komplex stabil ist und aktiv zur Spitze des Stils transportiert würde, dann könnte seine Konzentration an der Stielspitze am größten sein. Dafür spricht, dass die Regeneration eines abgeschnittenen Hutes umso schneller erfolgt, je mehr Energie das Licht liefert. Für einen aktiven Transport von mRNA-Protein-Komplexen über das Zytoskelett spricht, dass sich die Hut-Bildung durch Colchizin verhindern lässt. Denn Cholchizin zerstört das Zytoskelett. An der Stielspitze bräuchte es aber ein weiteres, in größter Konzentration an der Stielspitze vorhandenes Signal für Freisetzung der mRNA für Hut-spezifische Proteine.
In Kapitel 9.1: "Early experiments with giant Acetabularia cells demonstrated that necleus-dictated genetic information was transmitted to and expressed in the cytoplasm" seines Buches: "Landmark Experiments in Molecular Biology" schreibt der emeritierte israelische Biochemie-Professor Michael Fry, dass ein Spezies-spezifischer Hut auch noch Wochen nach der Entfernung des Rhizoids mit dem Zellkern gebildet werden kann. Die dafür erforderlichen mRNAs müssen also schon wochenlang im Cytoplasma gelegen haben, bevor der Stiel ausreichend gewachsen war, um endlich die mRNAs für die Bildung des Hutes zu benutzen. Fry schreibt auch, dass Hämmerlings korrekte Interpretation seiner Experimente als Hinweise auf über Wochen stabile Bauanleitungen für den Hut zuerst aufgrund seiner in deutscher Sprache verfassten Artikel ignoriert und später wegen eines allgemein vorherrschenden Glaubens an die Labilität aller mRNAs nicht geglaubt wurde.
Sigrid Berger vom Heidelberger Institut für Pflanzenwissenschaften (HIP) der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Abt. 2, Zellbiologie, Im Neuenheimer Feld 230, D-69120 Heidelberg) unterscheidet in ihrem Photo-Atlas of living Dasycladales im Kapitel über Acetabularia mit schönen Bildern die verschiedenen Schirmalgen-Spezies und erklärt im Kapitel: "Contribution of Dasycladales to knowledge of cell biology" neben anderen interessanten Ergebnissen der Acetabularia-Forschung zur Chloroplasten-, Chronobiologie- und Zytoskelett-Forschung die von Hämmerling aufgrund seiner cleveren Experimente postulierten morphogenetischen Substanzen seien nach heutiger Kenntnislage an Proteine gebundene und dadurch stablisierte mRNAs. Wie bei morphogenetischen Gradienten üblich und durch den Namen Gradient schon angedeutet existiert nach heutiger Kenntnis tatsächlich ein Gefälle mit abnehmenden Konzentrationen von rRNAs und Protein-gebundenen mRNAs sowie eine abnehmende Aktivität der Protein-Synthese. Man fand auch eine früh im Zellzyklus vom Zellkern zum Apex transportierte mRNA, deren Translation aber lange durch einen ebenfalls im Zellkern produzierten Inhibitor unterdrückt wird. Umgekehrt wird aber auch der Zellkern reguliert, denn er beginnt erst mit der Meiose, nachdem der Hut fertig ist. Wird der Hut entfernt, kann der Zellkern nicht mit der Meiose beginnen. Setzt man einen zur Meiose bereiten "alten" Zellkern jungem Cytoplasma vom Beginn des Zellzyklus aus, so wird der Zellkern wieder in den anfänglichen Zustand zurück versetzt. Kombiniert man umgekehrt den jungen Zellkern einer gerade erst entstandenen Zygote mit dem "alten" Cytoplasma einer ausgewachsenen Zelle, dann beginnt der Zellkern rasch mit der Meiose.
Nachdem die 26 Dasycladales lange im Max-Planck-Institut für Zellbiologie gezüchtet wurden, muss man sie inzwischen bei der Culture Collection of Algae at the University of Texas, Austin, USA bestellen. Culture Collection of Algae (UTEX) - The University of Texas at Austin - MCDB Biology (A 6700) - 205 W. 24th Street - Austin, TX 78712 - U.S.A.
Versucht man eine Regeneration aus einem Stück Stiel, dann hängt das Ergebnis davon ab, welches Stück Stiel man nimmt.
Regeneration aus einem Rhizoid-nahen Stück Stiel |
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anonym, CC BY-SA 3.0 |
Ein Rhizoid-nahes Stück Stiel bildet an seinen beiden Enden Rhizoide ohne Zellkern. Offensichtlich enthält der Stiel in der Nähe des Rhizoids alle Moleküle, die für den Aufbau eines Rhizoids erforderlich sind. Hingegen fehlen offenbar für den Aufbau eines neuen Schirms notwendige Moleküle. Weil der Stiel aber normalerweise nur einen Hut und nur ein Rhizoid ausbildet, müssen im Hut und im Rhizoid gebildete Stoffe die Bildung weiterer Hüte uund Rhizoide verhindern. Später stirbt die Alge ab, weil ihr ohne Zellkern die Baupläne für die Produktion neuer Proteine fehlen.
Regeneration aus einem mittleren Stück Stiel |
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anonym, CC BY-SA 3.0 |
Ein mittleres Stück Stiel bildet an einem Ende einen neuen Hut und am anderen Ende ein neues Rhizoid ohne Zellkern. Das zeigt, dass der Stiel an der einen Seite alle für die Bildung eines Hutes nötigen Komponenten enthält und an der anderen Seite alles für die Bildung eines kernlosen Rhizoids.
Regeneration aus einem Hut-nahen Stück Stiel |
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anonym, CC BY-SA 3.0 |
Ein Hut-nahes Stück Stiel bildet an seinen beiden Enden Hüte. Allerdings entsteht in der Nähe der Position des ursprünglichen Hutes ein deutlich größerer Hut als am eher mittigen Ende. Das zeigt, dass die Konzentrationen der für den Aufbau eines Hutes erforderlichen Stoffe kontinuierlich zunehmen. Man nennt das einen Gradienten.
Regeneration nach schrittweiser Amputation |
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anonym, CC BY-SA 3.0 |
Wird erst der Hut und erst später das Rhizoid entfernt, dann bildet sich zunächst nur der Hut nach. Später müsste allerdings auch ein kernloses Rhizoid gebildet werden.
Wegen der unverschämten Preise der großen kommerziellen "Wissenschafts"-Verlage war ich nicht bereit, mir den Originalartikel aus dem Jahr 1934 von Joachim Hämmerling zu besorgen. Die Darstellung seines Pfropfungs-Experimentes habe ich daher dem Kapitel 9.1: "Early experiments with giant Acetabularia cells demonstrated that necleus-dictated genetic information was transmitted to and expressed in the cytoplasm" des Buches: "Landmark Experiments in Molecular Biology" von Prof. Michael Fry entnommen. Darum konnte ich leider nicht überprüfen, ob Joachim Hämmerling neben Acetabularia mediterranea wirklich Acetabularia crenulata und nicht die im Titel eines 1934 von Hämmerling publizierten Artikels genannte Acetabularia wettsteinii verwendete. Acetabularia mediterranea nennt man heute übrigens Acetabularia acetabulum und Acetabularia wettsteinii heißt aktuell Parvocaulis parvulus.
In den frühen 1930er Jahren verband Joachim Hämmerling ein Stück des Stiels von Acetabularia mediterranea mit dem Rhizoid einer Acetabularia crenulata. Bis der Stiel ausreichend nachgewachsen war um einen neuen Hut zu bilden, waren offenbar die mRNA-Protein-Komplexe aus dem Crenulata-Zellkern zur Stielspitze transportiert und die mRNAs freigesetzt worden. Darum bestimmten sie die Form des Hutes der Hybrid-Alge.
Schema einer Acetabularia-Pfropfung |
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